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Grenzmauer mit Stacheldraht an der türkisch-syrischen Grenze nahe der Stadt Ras al-Ain. Die Türkei ist der Türsteher Europas: Syrischen wie nicht-syrischen Schutzsuchenden droht die Abschiebung in die Verfolgerstaaten. Foto: Reuters / Rodi Said

Inhaftierungen, Abschiebungen, kein Zugang zum Asylverfahren: Der EU-Türkei-Deal hat an Europas Grenzen zu rechtlosen Zuständen geführt. PRO ASYL hat die fatalen Folgen des Deals in einem Bericht dokumentiert und fordert anlässlich der Reise der Bundeskanzlerin in die Türkei am 22. Mai die Aussetzung des EU-Türkei-Abkommens.

Unse­re Doku­men­ta­ti­on zeigt: Die ers­ten Aus­wir­kun­gen über­stei­gen unse­re schlimms­ten Befürch­tun­gen. In die Tür­kei Zurück­ge­scho­be­ne wer­den inhaf­tiert. Die Mög­lich­keit, Asyl­an­trä­ge zu stel­len, gibt es fak­tisch nicht. Die Inhaf­tier­ten wer­den gezwun­gen, ihre Zustim­mung zur frei­wil­li­gen Aus­rei­se zu erklä­ren. Ansons­ten droht ihnen mona­te­lan­ge Haft.

Auf den grie­chi­schen Inseln sit­zen Mit­te Mai mehr als 8.300 Men­schen fest – meh­re­re Tau­send sind inhaf­tiert. Die Haft­la­ger und pro­vi­so­ri­schen Unter­künf­te sind völ­lig über­füllt, die hygie­ni­schen Ver­hält­nis­se kata­stro­phal und die Essen­ver­sor­gung abso­lut defizitär.

Zu die­sem Schluss kommt auch Human Rights Watch in einem aktu­el­len Bericht vom 19. Mai 2016. HRW beschreibt die Situa­ti­on in den grie­chi­schen Hot­spots als chao­tisch und gefähr­lich, ins­be­son­de­re für Frau­en und Kin­der. Bei Aus­ein­an­der­set­zun­gen in den Haft­la­gern zieht sich die Poli­zei immer häu­fi­ger zurück. Unter die­sen chao­ti­schen Ver­hält­nis­sen ist die kör­per­li­che Inte­gri­tät der Schutz­su­chen­den nicht mehr gewähr­leis­tet. Auch unse­re Mit­ar­bei­ten­den spre­chen von einer Situa­ti­on, die außer Kon­trol­le gera­ten sei.

In die­ser Situa­ti­on, in der Flücht­lin­gen weder eine gere­gel­te Basis­ver­sor­gung gewährt noch ihre Sicher­heit in den Lagern gewähr­leis­tet wird, kann es kein rechts­staat­li­ches Ver­fah­ren geben.

In den Hot­spots gibt es kaum Infor­ma­tio­nen zum Ver­fah­ren für Schutz­su­chen­de. Man­gels Anwäl­ten gibt es in der Regel kei­ne Mög­lich­keit, gegen ableh­nen­de Ent­schei­dun­gen vor Gericht zu gehen. Der Rechts­staat in Grie­chen­land wird außer Kraft gesetzt. Das Pro-For­ma-Ver­fah­ren, das Grie­chen­land auf Druck der EU ein­ge­führt hat, zielt allein auf die Rück­über­stel­lung in die Tür­kei. Von einem fai­ren und rechts­staat­li­chen Ver­fah­ren kann kei­ne Rede sein.

Die­se Ergeb­nis­se basie­ren auf den ers­ten Berich­ten des PRO ASYL Netz­werks Refu­gee Sup­port Pro­gram Aege­an (RSPA). In die­sem Pro­jekt arbei­ten 14 Per­so­nen in Athen, Les­bos, Chi­os und Izmir, dar­un­ter vier Rechts­an­wäl­tin­nen. Dar­auf auf­bau­end hat PRO ASYL die Doku­men­ta­ti­on mit dem Titel „Der EU-Tür­kei-Deal und sei­ne Fol­gen“ veröffentlicht.

Einzelfälle legen Ausmaß von Rechtlosigkeit offen

Aktu­ell ste­hen syri­sche Schutz­su­chen­de vor der Abschie­bung in die Tür­kei. Eine Beam­tin des Bun­des­am­tes wirkt dar­an mit und will – bei­spiels­wei­se – kur­di­sche  Syrer, deren Stadt zer­bombt wur­de, in die Tür­kei abschie­ben (sie­he Doku­men­ta­ti­on von PRO ASYL, Sei­te 9). Die Flucht­grün­de spie­len für die Beam­tin kei­ne Rol­le. Neue­re Berich­te bele­gen, dass aus Grie­chen­land Abge­scho­be­ne in der Tür­kei in Haft kommen.

Wie bekannt, ist die Tür­kei in den syri­schen Bür­ger­krieg invol­viert und hat wie­der­holt Stel­lun­gen im kur­di­schen Teil Syri­ens bom­bar­diert. Berich­ten zufol­ge geht die tür­ki­sche Armee mit bru­ta­ler Gewalt auch im Süd­os­ten der Tür­kei gegen Kur­den vor. Es ist davon aus­zu­ge­hen, dass es hier zu mas­si­ven Men­schen­rechts­ver­let­zun­gen kommt und gera­de kur­di­sche Schutz­su­chen­de berech­tig­ter­wei­se Zwei­fel dar­an haben, dass ihnen der tür­ki­sche Staat Schutz gewährt. Die Fami­lie mit drei klei­nen Kin­dern hat über­dies vor­ge­tra­gen, dass die Mut­ter der Kin­der Herz­pro­ble­me hat – all dies spielt kei­ne Rol­le. Die deut­sche EASO-Beam­tin stell­te lapi­dar die Sicher­heit in der Tür­kei fest. Der Aus­gang des Ver­fah­rens ist gegen­wär­tig noch offen.

Willkürliche Abschiebung aus Griechenland aufgrund fehlender Rechtsstaatlichkeit

Mehr als 8.300 Schutz­su­chen­de befin­den sich Mit­te Mai in Haft­la­gern und pro­vi­so­ri­schen Auf­nah­me­la­gern auf den grie­chi­schen Inseln. Auf alle Flücht­lin­ge, die die Ägäi­schen Inseln errei­chen, war­tet Inhaf­tie­rung unter erbärm­li­chen Bedin­gun­gen – 60% der Weg­ge­sperr­ten sind Frau­en und Kin­der. Sobald die Zuläs­sig­keits­prü­fung erfolgt ist, kön­nen die ver­zwei­fel­ten Men­schen kaum etwas gegen ihre Abschie­bung unternehmen.

Für über 3.000 inhaf­tier­te Flücht­lin­ge gab es im April auf Les­bos nur eine ein­zi­ge Anwäl­tin, finan­ziert von PRO ASYL. Das Ein­le­gen von Rechts­mit­teln gegen die dro­hen­de Abschie­bung ist damit für den Ein­zel­nen so gut wie unmög­lich, der Rechts­staat ist außer Kraft gesetzt. Damit wird sowohl die Euro­päi­sche Men­schen­rechts­kon­ven­ti­on (Arti­kel 13, Recht auf wirk­sa­me Beschwer­de) als auch die EU-Ver­fah­rens­richt­li­nie (Arti­kel 22 und 23) zum inter­na­tio­na­len Schutz und zur Fest­le­gung von Min­dest­nor­men für die Durch­füh­rung von Asyl­ver­fah­ren unterlaufen.

Kein Schutz für Opfer des IS-Terrors

Der Fall der ira­ki­schen Jesi­din W.K. und ihres Soh­nes, die von Grie­chen­land in die Tür­kei und dann in den Irak angeb­lich frei­wil­lig aus­reis­ten, zeigt die schwer­wie­gen­den Fol­gen des EU-Tür­kei-Deals (sie­he Doku­men­ta­ti­on von PRO ASYL, Sei­te 16). Per Sky­pe konn­te PRO ASYL am 14. Mai 2016 Kon­takt zu zwei ver­folg­ten jesi­di­schen Flücht­lin­gen auf­neh­men, die das Mas­sa­ker des Isla­mi­schen Staats im August 2014 in Shin­gal überlebten.

Sie berich­ten, dass sie in Grie­chen­land unter Vor­spie­ge­lung fal­scher Tat­sa­chen (Ver­le­gung in ein ande­res Lager) auf das Schiff gebracht und abge­scho­ben wur­den. In der Tür­kei wur­den sie inhaf­tiert und unter Druck gesetzt, der frei­wil­li­gen Aus­rei­se zuzu­stim­men oder ein Jahr im Gefäng­nis zu blei­ben. Ihr Fall zeigt die kom­plet­te Recht­lo­sig­keit, in die Schutz­su­chen­de durch den EU-Tür­kei-Deal gera­ten. Mut­ter (W.K.) und Sohn (S.K.) wur­den zunächst von Grie­chen­land in die Tür­kei und von dort wie­der in den Irak abgeschoben.

Rechtswidrige Abschiebungen trotz Asylantragstellung?

Am 4. April 2016 wur­den von den Inseln Les­bos und Chi­os die ers­ten Per­so­nen in die Tür­kei rück­über­stellt. Nach Medi­en­be­rich­ten und nach Aus­sa­gen der Bun­des­re­gie­rung woll­ten die­se Men­schen kei­ne Asyl­an­trä­ge stel­len. Nach Infor­ma­tio­nen, die PRO ASYL vor­lie­gen, befan­den sich unter den Abge­scho­be­nen 13 Asyl­su­chen­de (11 aus Afgha­ni­stan, 2 aus der Demo­kra­ti­schen Repu­blik Kon­go) deren Asyl­an­trä­ge bzw. deren Antrag auf Durch­füh­rung eines Asyl­ver­fah­rens in Grie­chen­land schlicht­weg igno­riert wur­den. UNHCR-Euro­pa­chef Vin­cent Coche­tel hat mehr­fach dar­auf auf­merk­sam gemacht, dass die Bear­bei­tung der Anträ­ge „ver­ges­sen“ wurde.

PRO ASYL und unse­re tür­ki­sche Part­ner­or­ga­ni­sa­ti­on Mül­teci-DER haben eine Rechts­an­wäl­tin beauf­tragt, der Sache nach­zu­ge­hen. Obwohl die beauf­trag­te Rechts­an­wäl­tin die Namen ihrer Man­dan­ten vor­le­gen konn­te, erhielt sie am 14. und 15. April kei­nen Zugang zum Haft­la­ger Kirk­lar­e­li in der Tür­kei nahe der bul­ga­ri­schen Gren­ze. Die Betrof­fe­nen waren also seit der Abschie­bung meh­re­re Wochen ohne Kon­takt zur Außen­welt inhaftiert.

Zuvor wur­de bereits UNHCR Tür­kei der Zugang zu den aus Grie­chen­land Abge­scho­be­nen ver­wei­gert. Mül­teci-DER hat dies in einer Pres­se­er­klä­rung am 21. April ver­öf­fent­licht. Die Men­schen­rechts­or­ga­ni­sa­ti­on hat im Rah­men des PRO ASYL Pro­jek­tes Beob­ach­tun­gen zur Situa­ti­on von Flücht­lin­gen in der Tür­kei sys­te­ma­ti­siert. Der gemein­sa­me Bericht wur­de am 17. Mai 2016 veröffentlicht.

Kein Zugang in der Türkei zu einem rechtsstaatlichen Verfahren

Die am 4. April in die Tür­kei Abge­scho­be­nen haben ent­ge­gen den Behaup­tun­gen der Bun­des­re­gie­rung und der Euro­päi­schen Kom­mis­si­on kei­nen Zugang zu einem rechts­staat­li­chen Verfahren.

Am 16. Mai berich­te­te die bri­ti­sche Tages­zei­tung „The Guar­di­an“, dass die ers­ten 12 „frei­wil­lig“ aus Grie­chen­land aus­ge­reis­ten Syrer in der Tür­kei drei Wochen ohne Kon­takt zu Rechts­an­wäl­ten und ohne aus­rei­chen­de medi­zi­ni­sche Ver­sor­gung in dem Haft­la­ger bei Düzi­çi inhaf­tiert waren. Einer von den Hun­der­ten dort inhaf­tier­ten Syrern sag­te, dass er seit dem 10. Febru­ar inhaf­tiert sei. Er wis­se weder, war­um er inhaf­tiert wor­den sei, noch wann er frei­ge­las­sen würde.

Zwar hal­ten sich in der Tür­kei mehr als 2,5 Mil­lio­nen syri­sche Flücht­lin­ge auf, der Zugang zu einem Rechts­sys­tem, das sie schützt, ist ihnen oft ver­sperrt. Ent­ge­gen den Dar­stel­lun­gen der Bun­des­re­gie­rung und der EU-Kom­mis­si­on gilt dies auch für den Zugang zu vor­über­ge­hen­dem Schutz.

Mül­teci-DER doku­men­tiert hier die Situa­ti­on in Izmir. Wäh­rend es vor dem EU-Tür­kei-Abkom­men noch mög­lich war, an fünf Tagen in der Woche bei der Poli­zei­sta­ti­on vor­zu­spre­chen und sich regis­trie­ren zu las­sen, um anschlie­ßend im zwei­ten Durch­gang Anträ­ge auf vor­über­ge­hen­den Schutz zu stel­len, ist dies nun­mehr nur noch an einem Tag pro Woche – mon­tags – mög­lich. Am Mon­tag, den 18. April 2016, wur­de der Regis­trie­rungs­vor­gang auf­grund des hohen Andrangs abgebrochen.