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Türkischer Hafen von Dikili am 4. April: Eine Fähre mit aus Griechenland Abgeschobenen dockt an. Nicht-Syrer*innen werden ins neu-errichtete Abschiebezentrum nach Kirklareli verbracht. Ihnen droht die Weiterschiebung aus der Türkei. Foto: picture alliance / NurPhoto

Seit dem 4. April werden Schutzsuchende aus Griechenland in die Türkei zurückgeschoben mit der Begründung, dass sie dort Schutz finden könnten. Unsere Partnerorganisation Mülteci-DER verfolgt die Situation in der Türkei: Ihre „Beobachtungen zur Lage von Flüchtlingen in der Türkei“ über die Lage von Flüchtlingen in der Türkei sind besorgniserregend.

Bis Ende April wur­den 375 Per­so­nen im Rah­men des EU-Tür­kei-Deals von Grie­chen­land in Tür­kei zurück­ge­scho­ben. Offi­zi­el­le bei­der Sei­ten haben wie­der­holt beteu­ert, dass die Fäl­le von Schutz­su­chen­den in Grie­chen­land wei­ter­hin indi­vi­du­ell geprüft wer­den wür­den, und dass sie in der Tür­kei nach ihrer Rück­füh­rung Zugang zu Asyl­ver­fah­ren hät­ten. Den­noch wur­den bereits am 4. April 13 Schutz­su­chen­de aus Afgha­ni­stan und dem Kon­go abge­scho­ben, ohne dass sie ihre Asyl­ge­su­che in Grie­chen­land hät­ten vor­brin­gen können.

PRO ASYL unter­stützt beson­ders schutz­be­dürf­ti­ge Flücht­lin­ge in Grie­chen­land und in der Tür­kei mit Rechts­hil­fe und koope­riert mit kom­pe­ten­ten Anwäl­tin­nen und Orga­ni­sa­tio­nen aus Grie­chen­land und der Tür­kei im Rah­men des Pro­jekts Refu­gee Sup­port Pro­gram in the Aege­an (RSPA). Die Beob­ach­tun­gen von Mül­teci-DER zei­gen besorg­nis­er­re­gen­de Zustände:

Eingeschränkter Zugang zu vorübergehendem Schutz für syrische Flüchtlinge (ab S. 1)

Ange­sichts der gro­ßen Zahl syri­scher Schutz­su­chen­der in der Tür­kei und der Ein­füh­rung neu­er Ver­fah­ren bei den zustän­di­gen Behör­den, hat sich die War­te­zeit bis zur Regis­trie­rung für syri­sche Flücht­lin­ge deut­lich erhöht. Im Moment kann es meh­re­re Mona­te dau­ern, bevor syri­sche Schutz­su­chen­de regis­triert werden.

Zeit­gleich wur­den eini­ge Regis­trie­rungs­zen­tren – zum Bei­spiel in Izmir – geschlos­sen, was den Fla­schen­hals wei­ter ver­engt hat. Mül­teci-DER wur­de von eini­gen Per­so­nen dar­über infor­miert, dass sie mehr­fach ver­sucht hät­ten, sich bei den Behör­den für vor­über­ge­hen­den Schutz zu regis­trie­ren, und dabei immer wie­der abge­wie­sen wor­den wären. Nun hät­ten sie den Ver­such auf­ge­ge­ben unab­hän­gig von den Risi­ken, die damit ver­bun­den sind, nicht regis­triert zu sein.

Syrer, die von den grie­chi­schen Inseln in die Tür­kei zurück­ge­scho­ben wer­den, haben kei­nen garan­tier­ten (Wie­der-) Zugang zu vor­über­ge­hen­dem Schutz und „es gibt kei­ne Klar­stel­lung dazu, was mit den Per­so­nen pas­siert, die nach ihrer Rück­füh­rung aus Grie­chen­land kei­nen vor­über­ge­hen­den Schutz erhal­ten“ (S. 6).

Kein effektiver Zugang zum Verfahren für nicht-syrische Inhaftierte (S. 8)

Alle Nicht-Syrer, die seit dem 4. April aus Grie­chen­land in die Tür­kei abge­scho­ben wor­den sind, wur­den in einem Abschie­be­la­ger in Kirk­lar­e­li inhaf­tiert. Es ist für sie prak­tisch unmög­lich Zugang zu einem Asyl­ver­fah­ren zu erhal­ten (S. 8 ff.):

„Trotz (…) Sicher­heits­klau­seln im Gesetz ist es aus fol­gen­den Grün­den in der Pra­xis sehr schwer für Per­so­nen, die sich in Haft befin­den, Zugang zu ihren Rech­ten, inklu­si­ve dem Recht auf Zugang zum Asyl, zu bekommen:

1) Asyl­an­trä­ge müs­sen per­sön­lich gestellt wer­den. Das bedeu­tet, dass selbst wenn eine Per­son, die inter­na­tio­na­len Schut­zes bedarf, einen Anwalt hat, der Antrag auf Asyl nicht von die­sem Anwalt gestellt wer­den kann.

2) Asyl­an­trä­ge müs­sen schrift­lich ein­ge­reicht wer­den, aber der Zugang zu Schreib­ma­te­ria­li­en ist meist unmög­lich. Mül­teci-DER hört immer wie­der von Fäl­len, in denen die Bit­ten eines Inhaf­tier­ten um Schreib­wa­ren von den Beam­ten in den Abschie­be­la­gern abge­lehnt wer­den und die betrof­fe­ne Per­son aus­ge­wie­sen wird, weil es ihr nicht mög­lich war, einen schrift­li­chen Antrag auf Asyl zu stellen.

3) Den Inhaf­tier­ten wer­den ihre Rech­te nicht hin­rei­chend klar gemacht, und daher wis­sen vie­le nicht, dass sie aus der Haft her­aus einen Asyl­an­trag stel­len könn­ten oder dass sie kos­ten­lo­se Rechts­hil­fe ersu­chen könn­ten, wel­che für Beru­fun­gen gegen Haft, Zurück­wei­sun­gen oder Abschie­bun­gen nötig ist.

„Nur die wenigs­ten Inhaf­tier­ten sind sich ihres Rechts auf kos­ten­lo­se Rechts­hil­fe bewusst und wis­sen, wie sie davon Gebrauch machen können.“

4) In man­chen Fäl­len wur­den Inhaf­tier­ten absicht­lich fal­sche Infor­ma­ti­on gege­ben, als ihnen erklärt wur­de, sie wür­den mona­te­lang inhaf­tiert wer­den, wenn sie um Asyl ersu­chen. In vie­len Fäl­len hielt dies die Inhaf­tier­ten davon ab, Anträ­ge auf Asyl zu stellen.

5) Der Zugang zu kos­ten­lo­ser Rechts­hil­fe ist nicht auto­ma­tisch und Häft­lin­ge wer­den nicht aus­rei­chend dar­über infor­miert. Nur die wenigs­ten Inhaf­tier­ten sind sich ihres Rechts auf kos­ten­lo­se Rechts­hil­fe bewusst und wis­sen, wie sie davon Gebrauch machen können.“

Mül­teci-DER hat wei­te­re schwe­re Rechts­ver­let­zun­gen gegen inhaf­tier­te Schutz­su­chen­de doku­men­tiert, die in den Beob­ach­tun­gen detail­liert beschrie­ben werden.

Angst vor “freiwilliger” Rückkehr und Abschiebungen

Von Anfang an haben Ver­tre­ter der tür­ki­schen Regie­rung erklärt, dass nicht-syri­sche Zurück­ge­scho­be­ne in ihre Her­kunfts­län­der abge­scho­ben wer­den soll­ten. Ange­sichts der Unmög­lich­keit, Zugang zu einem fai­ren Asyl­ver­fah­ren zu erhal­ten, setzt dies Schutz­su­chen­de der ernst­haf­ten Gefahr aus, abge­scho­ben zu wer­den ohne jemals ihre Flucht­grün­de vor­ge­bracht haben zu kön­nen. Es ist doku­men­tiert, dass die Tür­kei bereits Abschie­bun­gen nach Iran, Irak und Afgha­ni­stan durch­ge­führt hat.

Aber auch syri­sche Flücht­lin­ge müs­sen Abschie­bun­gen fürch­ten. Wie Mül­teci-DER ab Sei­te 2 aus­führt, gab es besorg­nis­er­re­gen­de Fäl­le soge­nann­ter „frei­wil­li­ger“ Rück­kehr nach Syri­en. Dabei wur­den syri­sche Flücht­lin­ge will­kür­lich inhaf­tiert und vor die Wahl gestellt, ent­we­der auf unbe­stimm­te Zeit in Haft zu blei­ben oder nach Syri­en zurückzukehren.

Hat Europa das individuelle Recht auf Asyl abgeschafft?

Wenn Schutz­su­chen­de, die Euro­pa errei­chen, nie die Mög­lich­keit erhal­ten Asyl zu ersu­chen, wird es frag­lich ob ein indi­vi­du­el­les Asyl­recht in Euro­pa noch exis­tiert. Bewei­se, die in den „Beob­ach­tun­gen zur Situa­ti­on von Flücht­lin­gen in der Tür­kei“ von Mül­teci-DER vor­ge­bracht wur­den, zei­gen deut­lich, dass sich Euro­pa nicht ein­fach dar­auf ver­las­sen kann, dass soge­nann­te „siche­re Dritt­staa­ten“ es von sei­ner Ver­ant­wor­tung für den Flücht­lings­schutz befreien.