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Nur die vielen zivilen Seenotretter verhinderten noch mehr Tote im Mittelmeer. Hier ist das Team von SOS Méditerranée unter widrigsten Bedingungen im Einsatz. Foto: Kevin McElvaney / SOS Méditerranée

Über 5.000 Flüchtlinge und Migranten kamen in diesem Jahr im Mittelmeer ums Leben. Unbeirrt gleichgültig hält man in Brüssel aber an Allianzen zur Fluchtverhinderung fest – während die Todesrate steigt.

Jeder 41. Flüchtling stirbt bei Überfahrt 

5.022 tote Flücht­lin­ge im Mit­tel­meer die­ses Jahr (UNHCR; Stand: 29.12.) – das sind noch ein­mal deut­lich mehr als die 3.771 doku­men­tier­ten Ertrun­ke­nen im bis­lang töd­lichs­ten Jahr 2015. Die meis­ten Men­schen star­ben dabei auf der Flucht­rou­te über das zen­tra­le Mittelmeer.

5.022

Men­schen star­ben 2016 bei der Flucht über das Mittelmeer.

Und auch unter Berück­sich­ti­gung der abso­lu­ten Zah­len ist die Todes­ra­te mas­siv ange­stie­gen: Die Orga­ni­sa­ti­on Ärz­te ohne Gren­zen (MSF) berech­ne­te, dass 2016 jeder 41. Geflüch­te­te bei der Boots­über­fahrt nach Ita­li­en ums Leben gekom­men sei. 2015 war es ledig­lich jeder 276.

Rund 90 Pro­zent der Schutz­su­chen­den bre­chen von Liby­en aus auf in Rich­tung Euro­pa, die meis­ten flüch­ten aus Nige­ria, Eri­trea, Sudan und Gam­bia – vor poli­ti­scher Ver­fol­gung, Gewalt, Repres­si­on und erdrü­cken­der Per­spek­tiv­lo­sig­keit. Cir­ca 16 Pro­zent der in Ita­li­en Ankom­men­den sind Kin­der, die meis­ten von ihnen unbegleitet.

Die Todes­zah­len stra­fen die heuch­le­ri­sche Argu­men­ta­ti­on der Euro­päi­schen Uni­on Lügen.

EU: Repressive Agenda statt legaler Wege

Statt die Ver­hin­de­rung wei­te­rer Todes­fäl­le, die Schaf­fung lega­ler Wege für Schutz­su­chen­de nach Euro­pa und eine euro­päi­sche See­not­ret­tung end­lich zur Prio­ri­tät zu machen, for­cier­te die EU aber auch 2016 ihre repres­si­ve Agenda:

Soge­nann­te Schlep­per­be­kämp­fung und Flucht­ver­hin­de­rung wur­den unbe­irrt wei­ter­ver­folgt, wäh­rend die Todes­ra­te stieg. Damit könn­ten wei­te­re Tra­gö­di­en auf See ver­hin­dert wer­den, so die poli­ti­schen Ver­ant­wor­tungs­trä­ger in Brüs­sel. Die Todes­zah­len stra­fen die­se heuch­le­ri­sche Argu­men­ta­ti­on Lügen.

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Aktivist*innen der See­not­ret­tungs­or­ga­ni­sa­ti­on Sea-Watch hiel­ten am 15. Dezem­ber eine Gedenk­kund­ge­bung vor dem Bun­des­tag in Ber­lin ab und for­der­ten siche­re und lega­le Flucht­we­ge. Fast 5.000 Ker­zen bil­de­ten den Schrift­zug #Saf­e­Pas­sa­ge. Foto: Ruben Neu­ge­bau­er / Jib Coll­ec­ti­ve
16%

der ankom­men­den Boots­flücht­lin­ge sind Kinder.

»Schlepperbekämpfung« verhindert keine Todesfälle 

Die EU enga­gie­re sich schließ­lich mit der Mili­tär­ope­ra­ti­on EUNAVFOR Med für See­not­ret­tung, so beteu­ert man in Brüs­sel. Eine Ope­ra­ti­on, die im Juni 2015 jedoch expli­zit nicht zur See­not­ret­tung, son­dern zur soge­nann­ten Schlep­per­be­kämp­fung lan­ciert wurde.

Selbst der Kom­man­dant der Ope­ra­ti­on, Enri­co Cre­den­di­no, betont in einem inter­nen Bericht von Ende Novem­ber, die im Rah­men von EUNAVFOR Med durch­ge­führ­ten Ret­tungs­ope­ra­tio­nen wür­den ledig­lich 13 Pro­zent aller in 2016 geret­te­ter Flücht­lin­ge und Migrant*innen aus­ma­chen. Die Ope­ra­ti­on stel­le daher kei­nen »Pull-Fak­tor« dar – See­not­ret­tung wür­de unab­hän­gig der Prä­senz von EUNAVFOR Med erfolgen.

Eine Ana­ly­se von Sta­te­watch zeigt auf, dass dar­über hin­aus der Fokus der Mili­tär­ope­ra­ti­on auf die Zer­stö­rung von Boo­ten – ins­ge­samt 269 zwi­schen Janu­ar und Okto­ber 2016 – den modus ope­ran­di der Schlep­per ver­än­dert und Schutz­su­chen­de damit noch grö­ße­ren Risi­ken aus­ge­setzt habe:

Die Ärz­te ohne Gren­zen, die 2016 mit drei Ret­tungs­boo­ten im zen­tra­len Mit­tel­meer prä­sent waren, berich­ten von immer skru­pel­lo­se­ren Prak­ti­ken der Schlep­per­netz­wer­ke. So sei­en gro­ße Holz­boo­te, die 2014 und 2015 haupt­säch­lich ein­ge­setzt wur­den, durch bil­li­ge, auf­blas­ba­re Boo­te ersetzt wor­den.  MSF führt dies auf ver­stärk­te Grenz­kon­trol­len zurück. Die ent­setz­li­che Fol­ge: immer mehr Tra­gö­di­en, mehr Tote – ertrun­ken oder erstickt durch das Gewicht hun­der­ter Flücht­lin­ge auf viel zu klei­nen Booten.

Fluchtverhinderung bereits mitten in Afrika

Die EU hat 2016 auch die Stra­te­gie, Schutz­su­chen­de bereits vor dem Errei­chen euro­päi­scher Gren­zen von der Wei­ter­flucht abzu­hal­ten, mas­siv for­ciert – und damit die Flucht nach Euro­pa zu einem noch gefähr­li­che­ren Unter­fan­gen gemacht. Die liby­sche Küs­ten­wa­che wird seit Ende Okto­ber unter ande­rem von Fron­tex-Beam­ten im Rah­men von EUNAVFOR Med aus­ge­bil­det, um Flücht­lings­boo­te mög­lichst bereits in liby­schen Gewäs­sern aufzugreifen.

Die Poli­tik des Ster­ben­las­sens ist eine Schan­de für Europa.
Ein »wei­ter so« in 2017 ist kei­ne Option!

Mit dem EU-Tür­kei-Deal im März war bereits ein Exem­pel sta­tu­iert wor­den – für eine Vor­ver­la­ge­rung der Abwehr und gegen den Schutz von Flücht­lin­gen. Bald dar­auf plä­dier­te Ange­la Mer­kel dafür, mit Ägyp­ten, Tune­si­en oder gar Liby­en ähn­li­che Deals abzu­schlie­ßen und mit den soge­nann­ten »Migra­ti­ons­part­ner­schaf­ten« mit afri­ka­ni­schen Staa­ten wur­de ein wei­te­res Instru­ment geschaf­fen, um Dritt­staa­ten über Anrei­ze in das euro­päi­sche Grenz­re­gime mit einzubinden.

Aufschrei gegen das Festsetzen, Abwehren und Sterbenlassen! 

Die pro­pa­gier­ten poli­ti­schen Lösun­gen haben seit Jah­ren die glei­che, flücht­lings­feind­li­che Stoß­rich­tung: Schutz­su­chen­de sol­len von einer mög­li­chen Über­fahrt abge­hal­ten und in Tran­sit- oder Her­kunfts­län­dern fest­ge­setzt wer­den. Doch die Fol­ge wei­te­rer Abwehr­maß­nah­men sind gefähr­li­che­re Flucht­we­ge und mehr Tote.

Ein »wei­ter so« in 2017 ist kei­ne Opti­on, die Poli­tik des Ster­ben­las­sens ist eine Schan­de für Euro­pa! Der Schre­cken darf nicht läh­men, er muss zum Auf­schrei füh­ren – noch lau­ter, noch ent­schie­de­ner und getra­gen von noch vie­len mehr.